Mittwoch, 28. Juli 2010

Geschichte erzählt

Eine Frage, die mir häufig gestellt wird: Wie geht man als Biograf mit offensichtlichen Geschichtsklitterungen und persönlichen Verdrängungen um? Zunächst einmal muss man sie schlichtweg aushalten. Das klingt banal, ist es aber nicht. Die Arbeit an einer Biografie beginnt mit stundenlangen Gesprächen und Interviews, die sich über mehrere Tage hinziehen. Die Erzähler bzw. Erzählerinnen sind meistens schon in höherem Alter. Sie öffnen sich einem Fremden, der zudem noch um Jahrzehnte jünger ist, nicht binnen weniger Minuten. Vertrautheit will erarbeitet werden.
Signale von Empathie zu senden, zugewandt sein, aufmerksam und offen zuzuhören, Erzählfluss zuzulassen - das sind die Grundzutaten für ein gut geführtes biografisches Interview. Übrigens: Diese Fähigkeiten kann man nicht theoretisch erwerben, sondern nur in der Praxis. Deswegen ist Erfahrung das größte Kapital eines personal historian. Oft zeigt sich in diesen Gesprächen ein Dilemma. Ich muss eine große Nähe zum Erzähler herstellen, damit er sich mir so weit wie möglich öffnet. Gleichzeitig ermöglicht mir nur eine gewisse Distanz, gelassen mit historischen Ungereimtheiten umzugehen. Letztendlich hilft es, sich klarzumachen, dass jede Biografie eine völlig einseitige, individuelle Sicht auf die geschilderten Ereignisse liefert. Zudem hat jeder Erzähler einen eigenen Antrieb, eine besondere Motivation, sein Leben zu dokumentieren und seine Geschichte aufschreiben zu lassen. Das Spektrum reicht vom Selbstmarketing bis zur Lebensbeichte. Da gibt es den erfolgreichen Unternehmer, der aus dem Nichts eine Firma mit Weltgeltung aufgebaut hat. Oder die Gastwirtin, die trotz aller nach außen zur Schau gestellten Fröhlichkeit fast ihr ganzes Leben um ihren ersten Mann Adolf getrauert hat, mit dem sie vier Monate und dreizehn Tage verheiratet war, als ein Schrapnell seinen Kopf zerfetzte. Am 14. November 1941. In einem russischen Dorf rund 100 Kilometer östlich von Minsk. Und dabei war ihr Adolf doch nur Metzger und arbeitete als Koch in einer Feldküche.
So anders- und einzigartig diese Lebensgeschichten, so unterschiedlich die Herangehensweise an eine Biografie. Manchmal spielt die sogenannte »historische Wahrheit« überhaupt keine Rolle. In der Regel weise ich den Erzähler aber darauf hin, dass seine Darstellung sich nicht mit der allgemein akzeptierten Geschichtsschreibung deckt. Das bin ich meiner Ausbildung als Historiker schuldig. Oft ist der Erzähler dann überrascht, dass er sich geirrt haben könnte, und wir ändern diesen Textteil. Ich habe es aber auch schon erlebt, dass jemand starr an seiner Sicht der Dinge festhielt, weil genau das die Krücke war, die ihm einen Umgang mit vielleicht traumatischen Ereignissen überhaupt möglich machte. Ich solchen Fällen bleibt dem Biografen nichts anderes übrig, als zu schweigen.

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