Montag, 20. Juli 2009

Meine persönliche Mondlandung

Heute kann ich nicht anders. Heute muss ich autobiografisch werden.
Es geht mir wie jedem Menschen: An einige Tage der persönlich erlebten Weltgeschichte kann ich mich sehr genau erinnern. Kein anderer Tag aber ist mir so genau im Gedächtnis, wie der 20 Juli 1969, genauer die Nacht vom 20. auf den 21. Juli. Ich war dreizehn Jahre alt und im Gegensatz zu heutigen Dreizehnjährigen interessierte ich mich nur für eins: Raumfahrt. Als mit Gemini 3 das Mondlandeprogramm der Amerikaner begann, war ich knapp acht Jahre alt und trotzdem kenne ich noch heute die Namen der beiden ersten Astronauten (Virgil Grissom und John Young). Der Virus hatte mich gepackt und er bekam reichlich Nahrung. Im Abstand von nur wenigen Monaten starteten Geminiraumschiffe zu immer längeren und technisch anspruchsvolleren Missionen. Ich lernte in dieser Zeit lesen und verschlang alles, war mir über Raumfahrt in die Hände fiel. Die Flüge ins All lieferten großartige Bilder und große Emotionen.
Ich weinte vor Trauer, als während eines Bodentests am 27. Januar 1967 Virgil Grissom, Edward H. White und Roger B. Chaffee in der Apollokapsel verbrannten. Ich weinte vor Rührung und Freude als Kommandant Frank Borman Weihnachten 1968 seine Weihnachtsbotschaft aus der Mondumlaufbahn vorlas.
Und jetzt also Apollo 11. Die ganze Familie hatte vier Tage zuvor nachmittags gegen halb drei vor dem Fernseher gesessen, als die Saturnrakete abhob. Fernsehen durften wir selten – Radiohören schon. Also lief ich nur noch mit dem Transistorradio in der Hand durch die Gegend, um ja kein Detail des Fluges zu verpassen. Wobei: niemand sprach von Flug. Mission war das viel treffendere Wort.
Diese Mission lief perfekt und heute war der Tag, auf den ich seit Jahren hinfieberte. Dabei begann er zäh wie Gummi. Ein typischer Sonntag meiner Kindheit eben. Dem morgendlichen Kirchgang mit den Eltern folgte das Warten auf das Sonntagsbratenmittagessen. Danach Mittagsruhe und anschließend Kaffee und Kirschkuchen auf der Terrasse.
Ich war aufgeregt, wie nie zuvor. Die entscheidende Frage war noch nicht geklärt: Würde ich die Fernsehübertragung in der Nacht sehen dürfen? Ich bettelte seit Tagen darum, doch noch hatte Vater seine Erlaubnis nicht erteilt. Jetzt endlich, den Mund noch voller Kirschkuchenstreusel, konnte ich aufatmen. Vater würde mich um drei Uhr am Morgen wecken. Tatsächlich schlief ich keine Stunde in dieser Nacht. Was, wenn der Vater einschlief oder mich einfach vergaß? Das Risiko konnte ich nicht eingehen. Schon um zwölf stand ich im Schlafanzug im Wohnzimmer.
„Was willst du den schon hier?“
„Ich kann nicht schlafen.“
Die Mutter katte Verständnis.
„Karl, lass ihn doch!.“
Also durfte ich mich anziehen und setzte mich zu den anderen, die schon vor dem Fernseher versammelt waren.
Selbst dem ansonsten stoisch ruhigen Chefkommentator Günther Siefahrt war die Aufregung anzumerken. Dabei passierte die nächsten Stunden nichts. Es wurde viel unverständliches Zeug geredet und im Hintergrund sah man das immer gleiche Bild des Kontrollzentrums in Houston.
Endlich, kurz vor vier, begann die Liveübertragung vom Mond. Zu erkennen war kaum etwas und trotzdem waren es die großartigsten Bilder, die ich je gesehen hatte. Ich bekam einen Kloß im Hals und die Tränen liefen mir übers Gesicht. Was für ein Augenblick! Ich zum ersten Mal dabei, als ein neues Kapitel der Menschheitsgeschichte begann.
Nur die fast achtzigjährige Oma störte, weil sie ständig wiederholte:
„Das kann doch nicht sein, der Mond ist doch viel zu klein. Da kann man doch nicht drauf rumlaufen.“

Heute Abend, genau vierzig Jahre später, werde ich wieder vor dem Fernseher sitzen. Ich werde wieder einen Kloß im Hals haben, wenn ich die verschwommenen Bilder sehe und Siefahrt sagt:
„Da, das Bein! Amstrongs Bein. Jetzt sieht man es deutlich.“
Vielleicht kann ich heute Abend die Tränen zurückhalten.
Oma wird diesmal auch nicht stören.
Schade, eigentlich.

Trackback URL:
https://biograf.twoday.net/stories/5833754/modTrackback

Schreib's auf!

Weblog des Biografen Matthias Brömmelhaus

Über mich

Ich arbeite als Biograf und Autor am Bodensee. Weitere Informationen finden Sie auf meiner Internetseite

Aktuelle Beiträge

Der Umgang mit Zeitzeugen
Eine Biografie zu schreiben, bedeutet zuerst und vor...
broemmelhaus - 27. Jul, 14:24
Geschichte erzählt
Eine Frage, die mir häufig gestellt wird: Wie geht...
broemmelhaus - 27. Jul, 14:21
Ausgepackt
Gerade habe ich mit der Arbeit an einer neuen Biografie...
broemmelhaus - 27. Jul, 14:13
Lob der Deadline
Vor zwei Stunden habe ich ein Manuskript zur Buchgestalterin...
broemmelhaus - 20. Mai, 15:34
Eine Frage des Honorars
Hin und wieder google ich die Begriffe Autobiografie,...
broemmelhaus - 7. Nov, 15:59

Archiv

Juli 2009
Mo
Di
Mi
Do
Fr
Sa
So
 
 
 1 
 2 
 3 
 4 
 5 
 6 
 7 
 8 
 9 
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
 
 
 

Mein Lesestoff

Suche

 

Impressum

Hier finden Sie das Impressum.

User Status

Du bist nicht angemeldet.