Donnerstag, 29. Juli 2010

Der Umgang mit Zeitzeugen

Eine Biografie zu schreiben, bedeutet zuerst und vor allem, genau zuzuhören. Über Stunden, Tage. Das kann für mich wie für den Zeitzeugen sehr anstrengend sein. Der Erzähler meines aktuellen Biografieprojekts ist ein 91-jähriger Mann aus dem Badischen - nennen wir ihn Ernst. Im Alter von 18 Jahren war Ernst unsicher, ob er die kleine, elterliche Schlosserei übernehmen oder lieber als Techniker in einem Großbetrieb arbeiten wollte. Da kam ihm eine - wie er meinte - schlaue Idee. Warum sollte er nicht freiwillig für zwei Jahre zum Militär gehen. Irgendwann würde man ihn ohnehin einziehen, da wäre es besser, den Zeitpunkt selbst zu bestimmen. Also bewarb er sich und wurde genommen. Am 9. November 1938 - einem deutschen Schicksalstag - rückte er in die Kaserne ein. Wäre alles nach Plan verlaufen, hätte er im Herbst 1940 alles hinter sich gehabt. Es lief aber nichts mehr nach Plan in Ernsts Leben. Im Herbst 1940 saß er im besetzten Frankreich, 60 Kilometer südwestlich von Paris. Noch hatte der Krieg ihm keine großen Wunden zugefügt. Das aber sollte sich ändern. Im Frühjahr 1941 wurde seine Einheit nach Polen verlegt. Ernst erinnert sich noch gut an den Abend des 21. Juni 1941: »Wir wussten, dass etwas passieren würde, denn schon seit Tagen überschlugen sich die Gerüchte. Als unser Hauptmann den Befehl für den kommenden Tag verlas und mir klar wurde, dass wir in wenigen Stunden nach Russland einmarschieren würden, lief es mir eiskalt den Rücken herunter. Dieser Tag würde mein Leben verändern, das stand fest. Zum Glück hatte ich nicht die geringste Vorstellung, was mir wirklich bevorstand.«

Als Ernst mir vorgestern von seinen Erlebnissen der ersten Tage des Russlandfeldzuges erzählte - äußerlich ruhig, präzise, detailgenau - spürte ich seine ungeheure Erregung. Auch wenn fast 70 Jahre vergangen sind, das Trauma ist gegenwärtig. Er steuerte die Zugmaschine einer Panzerabwehrkanone. Drei Tage blieb alles ruhig. Sie marschierten nach Osten, ohne einem einzigen russischen Soldaten zu begegnen. Dann, am vierten Tag, wurden sie plötzlich und ohne jede Vorwarnung, wie aus dem Nichts beschossen. »Ich wusste zuerst überhaupt nicht, was los war. Plötzlich flog der linke Außenspiegel durch die Luft. Hatte ich irgendetwas touchiert und er war dadurch abgebrochen? Ich schaute nach rechts. Ottos Körper war seltsam verbogen, sein rechter Arm hing über die Tür nach draußen und seine Augen waren aufgerissen. Ich rüttelte an seinem Arm. Keine Reaktion. Ich schrie ihn an: »Mensch Otto, was ist los?« Nichts. Ich schaute mich um. Die Männer, die auf der Geschützlafette gesessen hatten, waren verschwunden. Bis auf einen Einzigen, aber auch der war nicht mehr richtig da. Sein Unterleib fehlte, die Gedärme schleiften über den Boden. Als ich wieder nach vorne blickte, sah ich die Männer des vor mir fahrenden Geschützes von der Lafette purzeln. Wie Marionetten, bei denen der Puppenspieler, die Fäden durchtrennte. Dann sah ich nichts mehr. Nur noch Rauch und Dreck. Ich spürte auch nichts mehr. Dachte nichts mehr. Warf mich auf den Boden des Fahrzeugs, hielt die Hände über dem Stahlhelm gekreuzt.«

Am Ende gelang es Ernst, sich zu retten. Sich und zwei seiner schwer verwundeten Kameraden, die er in sein Fahrzeug zog und aus der Schusslinie brachte. Dafür sollte Ernst das EK 1 bekommen. Er lehnte es ab. Er fühlte sich nicht als Held. Sollte sich nie so fühlen. In all den Jahren nicht. Er funktionierte, um zu überleben. Mehr nicht.
Er kam bis kurz vor Moskau. 1944 wurde er auf dem Rückzug in russische Gefangenschaft genommen. Die folgenden fünf Jahre verbrachte er in unterschiedlichen Lagern am Fuße des Ural nahe der Millionenstadt Perm. Schuftete. Fror und hungerte gemeinsam mit seinen Bewachern. Lernte russisch. Versuchte, dem Stumpfsinn zu entfliehen, Normalität im Irrsinn zu finden.
Im November 1949 durfte er zurück in seinen Heimatort. Fast auf den Tag genau 11 Jahre, nachdem er zum ersten Mal eine Militäruniform angezogen hatte. Er kam in ein Land, das ihm fremd war. Bundesrepublik Deutschland. Adenauer. D-Mark. Viele Freunde von früher waren tot oder verschollen. Wer überlebt hatte, schwieg. Niemand wollte mit ihm über seine verlorenen elf Jahre reden. Alle waren froh, dass es vorbei war, dass es endlich wieder aufwärtsging. Und so ließ auch Ernst die Vergangenheit ruhen, obwohl sie ihn nicht ruhen ließ, ihn nachts aus einem Alptraum aufschreckte. Er funktionierte. Gut sogar. Baute aus der kleinen Schlosserei seines Vaters ein Unternehmen mit mehr als 1500 Mitarbeitern auf. Machte es zum Weltmarktführer.

Drei Tage ließ Ernst im Gespräch mit mir, seinem Biografen, das Grauen wieder aufleben. Erzählte mir alle Einzelheiten, verschonte mich vor keiner Grausamkeit. Ich habe ihm zugehört, ihn getröstet und ermuntert. Nun trage ich den Schrecken mit mir herum. Der Horror wird mir auf der Seele liegen, bis ich die Geschichte aufgeschrieben habe. Damit Ernsts Enkel lesen können, was Krieg mit Menschen anrichtet. Ihr Opa kann es ihnen genau sagen.

Geschichte erzählt

Eine Frage, die mir häufig gestellt wird: Wie geht man als Biograf mit offensichtlichen Geschichtsklitterungen und persönlichen Verdrängungen um? Zunächst einmal muss man sie schlichtweg aushalten. Das klingt banal, ist es aber nicht. Die Arbeit an einer Biografie beginnt mit stundenlangen Gesprächen und Interviews, die sich über mehrere Tage hinziehen. Die Erzähler bzw. Erzählerinnen sind meistens schon in höherem Alter. Sie öffnen sich einem Fremden, der zudem noch um Jahrzehnte jünger ist, nicht binnen weniger Minuten. Vertrautheit will erarbeitet werden.
Signale von Empathie zu senden, zugewandt sein, aufmerksam und offen zuzuhören, Erzählfluss zuzulassen - das sind die Grundzutaten für ein gut geführtes biografisches Interview. Übrigens: Diese Fähigkeiten kann man nicht theoretisch erwerben, sondern nur in der Praxis. Deswegen ist Erfahrung das größte Kapital eines personal historian. Oft zeigt sich in diesen Gesprächen ein Dilemma. Ich muss eine große Nähe zum Erzähler herstellen, damit er sich mir so weit wie möglich öffnet. Gleichzeitig ermöglicht mir nur eine gewisse Distanz, gelassen mit historischen Ungereimtheiten umzugehen. Letztendlich hilft es, sich klarzumachen, dass jede Biografie eine völlig einseitige, individuelle Sicht auf die geschilderten Ereignisse liefert. Zudem hat jeder Erzähler einen eigenen Antrieb, eine besondere Motivation, sein Leben zu dokumentieren und seine Geschichte aufschreiben zu lassen. Das Spektrum reicht vom Selbstmarketing bis zur Lebensbeichte. Da gibt es den erfolgreichen Unternehmer, der aus dem Nichts eine Firma mit Weltgeltung aufgebaut hat. Oder die Gastwirtin, die trotz aller nach außen zur Schau gestellten Fröhlichkeit fast ihr ganzes Leben um ihren ersten Mann Adolf getrauert hat, mit dem sie vier Monate und dreizehn Tage verheiratet war, als ein Schrapnell seinen Kopf zerfetzte. Am 14. November 1941. In einem russischen Dorf rund 100 Kilometer östlich von Minsk. Und dabei war ihr Adolf doch nur Metzger und arbeitete als Koch in einer Feldküche.
So anders- und einzigartig diese Lebensgeschichten, so unterschiedlich die Herangehensweise an eine Biografie. Manchmal spielt die sogenannte »historische Wahrheit« überhaupt keine Rolle. In der Regel weise ich den Erzähler aber darauf hin, dass seine Darstellung sich nicht mit der allgemein akzeptierten Geschichtsschreibung deckt. Das bin ich meiner Ausbildung als Historiker schuldig. Oft ist der Erzähler dann überrascht, dass er sich geirrt haben könnte, und wir ändern diesen Textteil. Ich habe es aber auch schon erlebt, dass jemand starr an seiner Sicht der Dinge festhielt, weil genau das die Krücke war, die ihm einen Umgang mit vielleicht traumatischen Ereignissen überhaupt möglich machte. Ich solchen Fällen bleibt dem Biografen nichts anderes übrig, als zu schweigen.

Ausgepackt

Gerade habe ich mit der Arbeit an einer neuen Biografie begonnen, da kommt die vorherige Arbeit endgültig zum Abschluss. Auch wenn ich schon viele Jahre als Biograf arbeite und Dutzende Privatbiografien geschrieben habe, ist es immer wieder ein besonderer Moment, wenn das Paket aus der Druckerei eintrifft.
Ausgepackt
Im Grunde genommen weiß ich genau, was mich erwartet. Vom ersten Entwurf der Buchgestalterin als pdf bis zum Andruck auf Papier habe ich Umschlag und Innenleben etliche Mal in Augenschein genommen.
Aber es ist etwas völlig anderes, ein Buch in der Hand zu halten. Fadengeheftet. Mit Lesebändchen. Durchgehend vierfarbig gedruckt, damit auch die alten Schwarz-Weiß-Fotos ihre besondere Atmosphäre, ihre Patina behalten. Wenn es dann so besonders gut gelungen ist wie dieses Mal, dann fühle ich den Stolz jedes Kreativen, wenn er sein Werk in den Händen hält und es für gut befindet. Das ist es, wofür man arbeitet! Na gut, neben dem Honorar natürlich, denn nur von der Anerkennung allein kann man keine Brötchen kaufen. Ohne das gute Gefühl, etwas Bleibendes von Wert geschaffen zu haben, wäre es aber nur ein Brotjob. Und das wäre mir zu wenig.

Schreib's auf!

Weblog des Biografen Matthias Brömmelhaus

Über mich

Ich arbeite als Biograf und Autor am Bodensee. Weitere Informationen finden Sie auf meiner Internetseite

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